Milford Track oder: nichts für schwache Blasen


"The earth has music for those who listen"
Shakespeare 


Goethe hat mal gesagt, dass das Leben ein Lied ist, dass in uns allen erklingt. Wenn man es einmal spielen könnte, würde man dadurch in neue Sphären aufsteigen.

Der Milford Sound stellt dabei mit Sicherheit eine Symphonie dar, denn hier spielt nicht nur ein Instrument diese wunderbare Melodie, es harmoniert ein ganzes Orchester an lebendigen Elementen, die das Herz durchfluten und in höhere Gefühlssphären davon schweben. Der Milford Sound ist ein Gedicht an die Welt, ein Monument und Zeugnis dessen, was möglich ist. Der Fjord, der fälschlicherweise immer noch als Sound bezeichnet wird, war vor fünfzehntausend Jahren noch ein Gletscher. Anders als bei Sounds, die durch den Lauf des Flusses geformt werden, waren hier die riesigen Mengen Eis ausschlaggebend für die (runde) Form der Täler. Dies ermöglicht eine faszinierende Vegetation aus Moosen, Gräsern, Bäumen und Sümpfen und bietet somit auch den unzähligen Vogelarten, aber auch Säugetieren eine nahrhafte Lebensgrundlage. 
Was den Milford Sound im Gegensatz zu anderen Regenwäldern so einzigartig macht ist der unglaublich hohe Niederschlag. Das Fjordland ist auf dem dritten Platz der niederschlagsreichsten Gegenden der Welt, mit 8000 Liter(!) pro Quadratmeter können die ruhigen Flussläufe in Minuten anschwellen und reisserische Kraft entwickeln. Dabei beginnt der Fjord während des Regens zum Leben zu erwachen. Wie ein grünes Herz beginnen die Adern, die Wasserläufe der Berge zu pulsieren, Tausende von Wasserfällen entstehen aus dem Nichts und rinnen ins Tal herab, beleben das ausgetrocknete, gelbe Moos zu saftigen grünen Schwämmen und münden in einem glasklaren Fluss, dem "Mittelfjord", oder eben Milford.

Ich hatte das große Privileg, aufgrund einer Absage eines Wanderers noch eine Karte für die Vier-Tages-Wanderung direkt durch das normalerweise sehr früh ausgebuchte Weltwunder zu ergattern, auch wenn sie sich preislich deutlich von den anderen Wanderwegen abhebt. Die Ursache für den hohen Preis liegt darin, dass man nur mit einem Boot Zugang zu dem Fjord bekommt, daher bedurfte es zusätzlicher Transportkosten. Da ich aber wahrscheinlich so schnell nicht wieder in diese Region der Welt kommen werde und mein dreissigster Geburtstag ebenfalls nur einmal gefeiert wird, rang ich mich durch, mich diesem Gedicht anzunehmen und es Zeile für Zeile zu ergründen. Es sollte sich lohnen.


Schon während der Überfahrt sollte mir klar werden, warum es eine der niederschlagreichsten Regionen der Welt sein sollte. Die wolkenverhangenen Berge und der frische Wind offenbarten das raue Klima unmittelbar. Dank guter Ausrüstung machte ich mir jedoch wenig Sorgen, sollte der Fjord doch seine Pracht besonders im Regen präsentieren. Mit guter Laune verlies ich das vollgepackte Schiff, welches nicht nur die vierzig Wandernden aus meiner Gruppe beherbergen sollte sondern auch sogenannte Guided Walker, also Leute, die viel Geld bezahlen, um durch dieses Gebiet geführt zu werden, warme Duschen genießen und in weichen Betten in Einzel-bzw. Doppelzimmern schlafen. 
Der Fjord selbst führt unmittelbar entlang des Flusses hindurch durch einen regnerischen Urwald, der von riesigen Felswänden umgeben wird, aus denen überall kleine Rinnsale plätschern. Vögel manövrieren sich durch die mannigfaltigen Äste in atemberaubender Präzision, folgen auf Tritt und Schritt und beobachten die seltsamen Gäste entlang des Pfades. Hin und wieder ermöglichen kleine Wege Ausflüge hin zu Moosgebieten, zu Grasausläufern am Fluss und zu kleinen Seen und geben Einblick auf die phänomenalen Berge ringsherum, die normalerweise durch das Dickicht verwehrt bleiben.












In der ersten Hütte angekommen, gibt der Ranger einen ausführlichen Einblick in die Vegetation des Fjordlandes. Seine sympathische Art und sein souveränes Auftreten (man stelle sich einen Gandalf ohne Bart vor: ein riesiger Mensch mit einem Stock, einem halbblinden Auge und einem durchdringenden, mehr als sympathischen Gesichtsausdruck) verdecken dabei seine siebzig Jahre. Gern hätte ich so jemanden als Biologielehrer gehabt, denn aufmerksam verfolge ich seine Ausführungen darüber, wie sich Hirsche hier ernähren und wie man mit Hilfe der Pflanzen und der Umgebung in der Wildnis überleben könnte. 
Aufgrund meiner Erschöpfung gehe ich jedoch nach diesen Ausführungen zeitig schlafen und verpasse den Hütten-Talk. 

Gut ausgeruht begebe ich mich am nächsten Morgen besonders früh auf meine Wanderung, das Wetter sieht gut aus, die Sonne, die aufgrund der Höhe der Berge nur zwischen 10 bis ca. 15 Uhr in den Fjord schaut, lässt sich immer mal wieder blicken um die Wolken zu verdunsten und erstrahlt die wunderschönen goldenen Pflanzen und Wasserfälle, die ein breites Grinsen in mein Gesicht meißeln. Ich mache immer wieder Rast an kleinen Seen, staune über die Natur und genieße die Sonnenstrahlen. Der Weg, der unter moosbewachsenen Bäumen und Unterholz führt, gibt immer wieder Einblick in die eigentümlichen Erscheinungen des Regenwaldes und halten mich gefangen. 


















In der Ferne zeichnet sich nach ca. 4 Stunden eine riesige Wand, die mich unweigerlich an George R.R. Martin's "Wall" aus "Song of Fire and Ice" erinnert. Beinahe Kerzengerade schießt diese Steinformation in den Himmel und beschäftigt meine Gedanken, um letztendlich festzustellen, dass sich die nächste Hütte direkt unter ihr befinden sollte. Ich sitze bestimmt zwei Stunden auf den Treppenstufen und starre hinüber zu dieser geografischen Wucht. 







Gegen 19 Uhr ruft die Hüttenwärterin zum Talk und gibt auch hier einen Einblick in das bevorstehende Wetter und den kommenden Weg, außerdem verrät sie, dass es in dieser Umgebung recht viele Kiwis geben soll, weshalb es sich lohnen sollte, des Nächtens ein wenig auf Tour zu gehen.
Ich greife mir also gegen 22 Uhr die Taschenlampe, während die meisten bereits Schlafen und begebe mich auf die Suche nach dem kleinen Kacker, den ich bisher einfach nicht finden sollte. So unzählige Male durfte ich ihn hören, aber die vom aussterben bedrohten flugunfähigen Vögel sind mehr als rar und vor allem extrem schüchtern. Diesmal MUSS es klappen, so gut waren die Chancen noch nie. 

Nach etwa 15 Minuten Nachtwanderung beginnt plötzlich meine Taschenlampe zu flackern, die Batterien, welche mich die letzten 5 Monate durch Neuseeland begleitet hatten, scheinen sich langsam dem Ende zu neigen. Gutes Timing. Ich beschließe, spärlich damit umzugehen, auch wenn ich mehr oder weniger weiter "stolpere" statt zu laufen. Ich komme zu einer Lichtung, als ich auf einmal ein Geräusch vernehme. Es klingt wie ein Kiwi. Ich stehe regungslos da und lausche, doch ich höre nichts mehr. Auf einmal realisiere ich, dass der Himmel sternenklar ist und man unzählig viele Sterne beobachten kann. Mit weit geöffnetem Mund stehe ich da und starre in die unendlichen Weiten des Universums, als es hinter mir zu knarren beginnt. Mein Herz rutscht in die Hose, den schlagartig flippt mein Bewusstsein vom Jupiter zurück in die Abgeschiedenheit des Fjordlandes, mitten in der Nacht irgendwo im Nichts steht ein Typ mutterseelenallein mit Bärenmütze, kaum noch Saft auf der Taschenlampe und zig Meter entfernt von der nächsten Hütte. Wenn sich jetzt ein fieser Troll heranschleicht, wird das ein Festmahl ohne Zuschauer. Ich drehe mich um meine eigene Achse um das Geräusch zu orten. Gebannt starre ich ins Dunkel und höre das Dröhnen meines Herzschlages, ich klicke die Taschenlampe an und das schwache, flackernde Licht entblößt mir:
das????


Statt erschreckt zu sein vom Licht bewegt sich das Possum, der Hauptverantwortliche für das Aussterben der Kiwis, weiter auf mich zu. Hastig grabsche ich nach meiner Kamera und mach ein paar (mehr als unscharfe) Fotos, doch das stört das Possum nicht wirklich. Erst als ich das Objektiv richtig konfiguriert habe macht es sich auf den Rückzug. Puuhh, ich atme tief durch und beschließe mich, mich auf den Rückweg zu machen.




Die Nacht verbringe ich einigermaßen entspannt (sofern das in einem Raum mit 20 Leuten geht, die auf knarzenden Matratzen liegen und erschöpft genug sind, um einen halben Wald zu sägen. Ein Wunder, dass fast alle Bäume im Milford noch stehen…). 

Der nächste Morgen beginnt ebenfalls sehr früh für mich, sollte es doch den Höhepunkt darstellen. Das Wetter sollte gut mitspielen, denn für den Vormittag war Sonne vorhergesagt, während es am Nachmittag zu nieseln anfangen sollte. 



Ich beginne den Zick-Zack-Aufstieg hinauf zum Pass, der mehr oder weniger direkt neben der Hütte nach oben geht und sich entlang der "Wand" hinauf schlängelt. Hier begegne ich Wekas, einer einsamen Bergblume und langsamen Wanderern. Mit erstaunlicher Leichtigkeit meistere ich im Gegensatz zu ihnen den Höhenunterschied, ich scheine langsam abgehärtet zu sein nach all den physischen Herausforderungen der vergangenen Monate. Kurz vor dem erreichen des Gipfels bemerke ich mein erstaunlich gutes Timing. Die Sonne ist gerade dabei, sich über den Pass zu quälen und erstrahlt das errichtete Monument mit paradiesischem Licht. Ich kanns kaum fassen, die Umgebung ist berauschend und übertrifft all meine Erwartungen.




























Die anderen Wandernden jubeln und schreien vor Glück und gemeinsam blicken wir in den Abgrund des Tales, das vor uns liegt. Von hier sehen wir bereits die nächste Hütte, die trotz der kurzen Distanz noch gut vier Stunden entfernt sein wird. Lässt man von diesem Punkt aus einen Stein fallen, dauert es 12 Sekunden, bis er aufschlägt! Da nehme ich doch lieber die 4 Stundenroute…


Auf dem Weg über den Pass kreuze ich eine Schutzhütte mit einer Toilette. Die erste Toilette die ich je gesehen habe, die an der Einfangstür ein Fenster hat. Diese Toilette bietet den schönsten Blick der Welt, denn von hier aus schaut man zurück in das Fjordgebiet, durch welches ich gewandert bin. Und ja, der Blick ist def. der schönste Ausblick einer Toilette, den ich je gefunden habe, auch wenn ich an einem solchen Ort sicher nicht geschäftstätig werden könnte, wenn ihr wisst, was ich meine…


Ich koche mir einen Tee in der Hütte und komme dabei mit einem legasthenischen Physiker (60), mit dem ich über Gewitter, dem Schulsystem, seinen Erfindungen, unseren Reiseerfahrungen und seinen Liebschaften erzähle, die er früher auf seinen Reisen kennengelernt hat. Der Abstieg entlang eines Flusses, der immer wieder in Strömungen und Wasserfälle übergeht, verfliegt im Nu, seine Geschichten beschäftigen mich und wir freuen uns über die gegenseitige Anwesenheit. 







Als wir in der Hütte ankommen, fängt es prompt an zu regnen, das Timing könnte nicht besser sein. Noch immer schwärmen wir von dem Ausblick und kochen unser Essen, von vielen werde ich bestaunt für mein "ausgefallenes" Essen. Statt dem typischen Fertigessen habe ich mir Pasta, Möhren und Tomatensauce mitgebracht, zusammen mit Salz und Pfeffer ergeben sie ein schmackhaftes und wohlriechendes Essen, das jede Fertigbolognese, Chicken Tereyaki usw. in die Tasche steckt. 

Der Höhepunkt in der Hütte war jedoch der abendliche Talk. Der Warden erzählte, wie besonders das letzte Stück des Tracks Ende des 19. Jahrhunderts von alten Häftlingen ausgebaut wurde, welches Einigen das Leben kostete. Wir sollten also gut aufpassen: sollten wir einen Geist sehen, möge er eine kriminelle Vergangenheit haben. Die Wandernden beginnen zu kichern und stellen sich vor, was wohl damals geschehen sei, als auf einmal eine mehr als aufmerksame Japanerin ihre Hand hebt und fragt: "Are there really ghosts to see on this track?" Die Gruppe versuchte krampfhaft, das Lachen zu unterdrücken, Wangen werden breit, Köpfe rot und einige beginnen sich die Nase zu putzen. Ein beeindruckender Track, bei dem wohl alles möglich zu sein scheint…

Der letzte Tag sollte sich im Regen ereignen, daher entschuldigt bitte die verwackelten, verregneten und unscharfen Bilder. Dennoch ermöglichen sie einen groben Eindruck der Schönheit, die sich mir in ihrer ganzen Blüte offenbaren sollte. Als ich die Tür aus meinem Schlafraum öffne, zeigt sich mir ein komplett roter Regenwald. Beeindruckend!




Die Wasserfälle strömen aus allen Kanälen, die Wolken hängen besonders tief und die Luft ist so feucht, dass man hinter jeder Ecke einen Bademeister vermutet, der bereit steht, einem vorm Ertrinken zu retten. Ich bahne meinen (recht flachen) weg entlang des Flusses, bestaune die kleinen und großen Wasserfälle und den "Bell Rock". Ein Stein, der früher durch einen Wasserfall ausgehöhlt wurde und dann irgendwie umgekippte. Nun muss man drunter durchkriechen, um einen Blick in diese "Glocke" (bell) werfen zu können. Ich wandere über Brücken, Täler, entlang an Seen und immer vorbei an überbordenden Wasserfällen und kann froh sein, nicht ertrunken zu sein, denn meinen Mund konnte ich die ganze Zeit über nicht mehr schließen. Völlig durchnässt erreiche ich den Bootssteg, wo bereits der 40jährige Glen wartet, der seinen Geburtstag auf dem Track gefeiert hat mit seinem Bruder und seinen besten Freunden. Gemeinsam freuen wir uns über die liebe Gesellschaft, die wir zu unseren Geburtstagen hatten und tauschen uns darüber aus, wie wichtig es ist, solche Anlässe besonders zu zelebrieren. 






Bell Rock



Nach ca. zwei Stunden werden wir letztendlich abgeholt und bekamen noch einen Einblick von der Wasserseite der Fjorde.

"Meine" Wandergruppe.





Magisch.

Kommentare

  1. Was für wunderschöne Fotos! Was für eine fantastische Landschaft! Was für ein Glück, dass du die Karte noch bekommen hast. ;-)

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Haach, vielen Dank. Ich glaub dir würde es hier sehr gut gefallen und wir könnten über allerhand Sachen diskutieren (und lachen)... Ich bin froh, dass ich nach Neuseeland gefahren bin :)

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts