Die Krise unserer Zeit - Das Leben zwischen den Endorphinen

Eine Bestandaufnahme und die Frage, die mich umtreibt



Keine Sorge, dies ist nicht noch ein Corona-Text. Er mag dadurch tangiert sein, dadurch, dass Corona mir einmal mehr aufgezeigt hat, was uns derzeit eigentlich wichtig ist. Aber hier geht es um einen anderen, wirklich komplexen Sachverhalt, den ich gar nicht in seiner Gänze erfassen oder diskutieren kann. Es wird einige Verkürzungen geben und der/die Leser:in wird an einigen Stellen sicherlich hart widersprechen. Irgendwo muss ich aber anfangen. In meinem Kopf sind bestimmt hundert relevante Punkte, die dieses Thema umreißen und es gibt nicht "den" EINEN Schuldigen für die von mir diagnostizierte Krise, aber es lässt sich auf einen recht simplen Sachverhalt herunterbrechen. Ich bitte um ein bisschen Geduld bei dem oder der Leser:in, auch dafür, dass es sehr viele Themen werden, die sich vermischen. Für mich gibt es einen klaren roten Faden, beim ersten Mal lesen könnte dieser aber zerfasert wirken. Bitte bleib am Ball, ich möchte mich wirklich gern mit dir darüber unterhalten.

Für mich stellt sich oft die Frage, warum sich die Idee der Aufklärung im Sinne der eigenständigen Entwicklung hin zum mündigen Subjekt so massiv gegenläufige Strömungen existieren. Klar gibt es da sehr verschiedene Blasen, in denen man sich bewegt und je nachdem, wo man sich befindet, sind die Probleme oder Situationen ganz anders. Mit einer These als Antwort auf diese Frage laufe ich aber seit einem Praktikum beim Offenen Kanal in Nordhausen (2007?/2008?) umher und in der Auseinandersetzung mit der Medienarbeit habe ich mir die Frage gestellt, welche Rolle oder welchen Einfluss Medien, allen voran neue Medien, eigentlich haben? Mir ist auch klar, dass ich nicht der Erste bin, der das schreibt und spätestens mit Adornos Kulturkritik ja schon vieles gesagt wurde. Aber ich möchte es einerseits mit einfachen Worten beschreiben auch für jene, die Adorno oder andere Kulturkritiken nie gelesen haben, aber auch mit eigenen Begriffen beschreiben, was ich hier sehe.

Vor meinem geistigen Auge zeichnen sich ganz klar zentrale Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft ab und ihre Phänomene dafür möchte ich hier ausformulieren: Junge Menschen streben massenweise unmotiviert in Bachelor-Studiengänge, Jugendliche vergehen im Stress und lassen sich nur noch selten für etwas begeistern, es entwickelt sich weiter und weiter ein allgemeines Dessinteresse oder sogar Unverständnis in der allgemeinen Bevölkerung gegenüber aktuell wichtigen Fragen (Klimapolitik, Pflegepolitik usw.) und gefühlt verlernt man, auf sich gegenseitig zu achten. Ganz zu schweigen von einer wachsenden Rechtsgerichtetheit (AfD, Orban, Trump, you name it...). Dafür gibt es sicherlich viele unterschiedliche Begründungen und Perspektiven, aber ist diese Situation im Informationszeitalter, wo jeder und jede innerhalb von Sekunden Zugriff auf unendlich viel Wissen hat, nicht skurril? Diese Frage treibt mich seit Jahren wirklich um. Und je nachdem, aus welcher (Wahrnehmungs-)Blase man kommt und mit welchem Argumentationshorizont man versucht, rational eine Begründung zu finden, ergeben sich unterschiedliche Antworten. Hier ist eben mein Versuch, das Problem oder diesen Faktor zu begreifen und in eine Form zu bringen.

Eine Wurzel des Problems

In unserer Gegenwart wachsen wir mit einer Fülle an Ablenkungsmöglichkeiten auf, die historisch gesehen in ihrer Dichte und Frequenz so hoch ist wie noch nie. Diese Ablenkungen werden oft unkritisch hinterfragt und aufgrund der Alltäglichkeit und den verbundenen Eigenschaften eher als positiv wahrgenommen. Die Möglichkeit, diese Dinge immer zu nutzen, wann immer uns danach ist, ist natürlich verfänglich, denn es gibt kein erforschtes gesundes Maß dafür und die Effekte zeigen sich erst nach und nach. Diese Art von Nutzung dieser Ablenkungen, die wir auch als Freiheit oder Erholung wahrnehmen, ist immer auch ein Tanz auf dem Vulkan. Ein Tango der Aufmerksamkeit.

Nun ist Ablenkung per se nichts schlechtes. Es hilft uns zu regenerieren, schwere Zeiten zu überstehen und neue Ideen und Impulse aufzugreifen. Es hängt jedoch von der Art und Weise der Ablenkung ab. Wir, sowie Jugendliche (mit denen ich in vielen unterschiedlichen Kontexten arbeite) werden auf einen Markt der Aufmerksamkeitsökonomie geworfen. Smartphones erlauben uns immerwährenden Kontakt mit unseren Liebsten, bieten uns unendlich viele Optionen, für wenig bis kein Geld Spiele zu spielen (Candycrush anyone?) oder Inhalte und Werbung zu konsumieren (Sportsendungen, YouTube Videos, Zeitschriften, P0rn). Streamingkanäle verramschen ihre Filme (wie viel Zeit hast du mit dem browsen der Streaming-Bibliothek verbracht im Verhältnis dazu, wie viel du geschaut hast?) in Konkurrenz zu den derzeit neu aufpoppenden Anbietern (nach Netflix, Prime usw. gibt es auf einmal Disney Plus, HBO Plus, Apple Plus), ähnliche Trends lassen sich auch in anderen Branchen feststellen, man muss sich nur mal die Videospielbranche anschauen: schaut man sich den Markt von Videospielen an, wird man feststellen, dass fast monatlich unfassbar gut produzierte, gut geschriebene und wirklich tolle Spiele erscheinen, die heutzutage für verhältnismäßig wenig Geld verramscht werden, weil die Konkurrenz so groß ist und die großen Konzerne wie Piranhas um die gar nicht mal so kleine Konsumentengruppe rotieren. Zudem kann man nur noch mit Franchises das große Geld verdienen, weshalb in einer Tour versucht wird, Marken mit neuen Marketing-Strategien auf den (freien) Markt zu schmeißen. Sie alle haben eines gemeinsam: sie treten in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit des Nutzers/der Nutzerin auf. Und da habe ich noch gar nicht die großen Influencer angesprochen, die Bibis und Gronkhs und wie sie alle heißen, die neuen Vorbilder unserer Jugendlichen, die nach Identifikationspersonen suchen, um sich in dieser fordernden und erwartungsreichen Welt zurecht finden müssen.  Die (anonymen und distanzierten!) Rat suchen, aus Angst sich bloß zu stellen und auf diesem Markt der Anerkennung zu versagen.
Ein Großteil von uns ist mit all diesen Sachen (ich wette, du hast noch ganz andere Beispiele im Kopf, die ich gar nicht genannt habe) so beschäftigt, so vereinnahmt, so ausgelastet, das viele andere Sachen gänzlich herunterfallen. Unsere Zeittorte die uns täglich zur Verfügung steht, ist massiv umworben und hat mittlerweile winzig kleine Stückchen, davon werden einige kaum satt!




Themen wie Selbstpflege (Was ist mir wichtig? Wer ist mir wichtig? Wie entspanne ich richtig? Welche Werte habe ich eigentlich? Wofür steht mein Leben?), die Fürsorge für die Menschen um mich herum (Wann hast du deiner Lieblingsperson das letzte Mal gesagt, was sie dir bedeutet? Wann hast du deinen Kollegen mal ein Kompliment gemacht? Wann hast du dich bei dem Menschen an der Kasse, der täglich, selbst zu Zeiten von Corona, so hart arbeitet, mal bedankt? Klar macht er oder sie nur seinen Job, aber das viele dieser Jobs halten unsere Gesellschaft am Laufen und nur weil es ein Beruf ist, ist es auch eine Lebenstätigkeit von Arbeitskraft), das lebenslange Lernen, die Langeweile als Impuls für eine kreative Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt, all das wird verdrängt, überlagert von diesem Summen, dem "Buzzing" unserer so bunten und verrückten Landschaft an Medien und diesem Buhlen nach dem letzten Rest an freier Zeit, welches uns nach Arbeit/Schule/Studium noch bleibt. Wir nehmen diese Dinge als Erholung wahr und darin ist sicherlich viel Wahrheit, aber sie sind gleichzeitig auch nur eine Ablenkung von anderen Dingen, eine Verführung.



Negative Effekte

Hier kommen mehrere Punkte ins Spiel, die ich für problematisch halte (neben so vielen sicherlich auch positiven Effekten):


1.: Konditionierung

Das, was diese Dinge mit uns psychologisch machen, ist eine Reizkonditionierung aufgrund der Hormone, allen voran Endorphine, welche bei der Anwendung ausgeschüttet werden und nach und nach unsere Aufmerksamkeit schrumpfen lassen. Sind die Inhalte doch meist auf kurze Zeiteinheiten getrimmt. Gleichzeitig zerspränkeln sie nach und nach Regionen unseres Hirns ("ich hab jetzt hierfür Zeit, ach ich mach jetzt das, ach das wollte ich doch schon immer mal schauen..."). Wie ein Eichhörnchen rast unser Hirn von einer versteckten Nuss zur anderen, wenn man dann von oben drauf schaut, sieht man, dass man sich vielleicht in viele Richtungen bewegt hat, man steht aber eigentlich immer noch da, wo man angefangen hat.



2. Die Ebene der Anerkennung

Wir geben uns diesen Sendungen, Serien, Spielen oder anderen Verführungen auch hin, damit wir im aktuellen Diskurs bleiben, damit wir mit anderen Mitreden können oder ihnen sogar voraus sind. Wir möchten auch Anlässe haben, darüber zu erzählen. Das passiert vielleicht gar nicht absichtlich oder aufgrund eines hirnrissigen Algorithmus, sondern aus wahrem Interesse und der Art, wie diese Dinge durch Marketing-Experten in die Welt gebracht werden und gezielt auf uns zugeschnitten werden. Wir leben schon längst in dieser Welt, die Blade Runner in den 80ern von der Zukunft gemalt hat, nur viel subtiler und niederschwelliger. Dieser innere Wille, auf Augenhöhe mit dem aktuellen Zeitgeschehen zu bleiben ist motiviert durch unseren Wunsch, Anerkennung zu bekommen, dazuzugehören, die besondere Person zu sein, die man ist. Sie kann einen immensen Druck erzeugen.



3. Die Prokrastination

Statt sich diesen Mechanismen hinzugeben, könnte man auch mit seiner Umgebung aktiv interagieren: Den Schrank reparieren, der seit Jahren wackelt. Das Urlaubsvideo zu Ende schneiden oder die tollen Erinnerungsfotos durchschauen, die man gemacht hat. Endlich mal das Buch lesen, welches man geschenkt bekommen hat oder einfach mit den Liebsten ein Picknick machen oder alte Freundinnen und Freunde wiedersehen. Die Liste ist lang und vieles davon macht man natürlich irgendwann. Aber selbst diese Aktivitäten stehen in Konkurrenz mit dem Aufflammen der Synapsen, die durch diese bunte Medienwelt entfacht werden und uns zur Prokrastination verleiten.




4. Die Persönlichkeitsentwicklung

Die Dinge, mit denen wir uns umgeben, prägen uns. Wenn ich als Kind von meinem Vater beigebracht bekomme, wie ich einen Hammer nutze, um ein Regal zu reparieren, ist das Regal für mich als junger Mensch kein nicht funktionierendes Ding sondern etwas, das ich aktiv wiederherstellen kann. Wenn ich als Kind viele Bücher lese, weiß ich mich besser auszudrücken, kann meine Gedanken und Emotionen vielleicht besser in Worte fassen, bin aber vielleicht zur realen Welt "asynchron". Wenn ich als Kind mit unendlich vielen Reizen aufwachse, bin ich vielleicht überfordert oder stumpfe ab, oder ich lerne in einem persönlichen Relevanzsystem, mich durch diesen Dschungel durchzuschleusen. Die Machete in diesem Dschungel ist das Augenverschließen, sich zurückziehen, damit holze ich aber vielleicht auch einige schöne Pflanzen ab, werde also vielleicht auch blind gegenüber schönen Dingen, die mich bereichern würden.
Diese Grundmechanismen werden zu Einschreibung, die uns mal so oder mal so in unserem Leben prägen und definieren. Das kann man bei Andreas Reckwitz und seinem Verständnis von Praxeologie ganz gut nachlesen. Nun gibt die Nutzung bestimmter Medien eben vor, wie wir uns Welt aneignen. In den Praktiken des Alltags kultivieren wir Handlungsalgorithmen, die bestimmte Persönlichkeitsentwicklungen verstärken oder hemmen. Ich glaube, Instagram etwa füttert den menschlichen Narzissmus: wir lernen das Handy als Selfie-Generator kennen, als Ich-Verstärker. Ich inszeniere mich mit einem Selfie vor dieser oder jener Situation und bekomme vor allem darauf Reaktionen und Feedback, gleichzeitig schaue ich anderen bei ihrem Leben zu und fühle mich unwohl, wenn ich nicht auch so lebe. Vielleicht, weil es ein Grundbedürfnis des Menschen ist, sich zu vergleichen und diejenigen, die dieses Bild sehen, sofort überlegen "oh wie cool, so will ich auch sein" oder "oh das ist ja schön, da möchte ich auch hin". Sicherlich freut man sich gegenseitig für einander, aber gleichzeitig befeuert es das Verlangen, sich weiter zu inszenieren, noch mehr dieser Resonanz zu erhalten oder gar zu erweitern. Es ist nicht neu, das hierbei Endorphine ausgeschüttet werden und auch ein Suchteffekt entsteht. (lesenswerter Artikel)

Werden diese Stufen gestört?


5. Die Psychologie von Ablenkung und Verdrängung

Neben all diesen Effekten sollte man sich auch fragen: warum lenken wir uns ab? Was macht Ablenkung eigentlich mit uns? Ist es nicht auch artverwandt mit der Verdrängung, die statt findet, um sich bestimmten Problemen nicht stellen zu müssen oder sich diesen zu entziehen? Der Eiertanz der Prokrastination ist immer auch ein sich drücken vor dem Stress, der Verantwortung, dem "Was falsch machen können" oder der Sorge, dass man versagt oder nichts wert ist. Diese Verschiebung der Probleme kann irgendwann dazu führen, wieder auszubrechen und führt im schwersten Falle zu argen Missverhältnissen. Das sind nicht selten harte psychologische Probleme, die jahrelang an einem arbeiten und einen irgendwann einholen. Wahrscheinlich hat jede/-r solche (leichten) Prozesse irgendwann einmal durchlebt und vielleicht auch gelernt, sich diesen zu stellen. Hat man diese Hürde einmal überwunden, liegt die Welt in ihrer Verformbarkeit zu Füßen. Aber mit den unendlichen Möglichkeiten dieser Ablenkungen verzögern wir diesen Mechanismus immer weiter hinaus, berauben uns unserer Mündigkeit, unserem Gestaltungsraum und dem Willen dazu.




"Denkt doch mal einer an die Kinder..."

Ich vermute, der oder die Leser:in denkt jetzt darüber nach, das er oder sie ja da einen ganz guten Kompromiss gefunden hat und das sei ja bei ihr oder ihm nicht so schlimm ist. Vielleicht glaubt er oder sie auch, dass ich hier vor allem über mich selbst schreibe. Das stimmt, immerhin kann auch ich mich diesem Balztanz nicht entziehen und ich bin mein eigener Erfahrungshorizont und einige dieser Mechanismen nehme ich an mir wahr. Es gibt nun mal nur mich in meinem Bewusstsein und nur in dieser Form kann ich denken. Aber meine Beobachtungen stützen sich auch auf Studien, Zeitungsartikel und dem Verhalten, welches ich bei anderen beobachte. Bei den Jugendlichen, mit denen ich arbeite, bei den Menschen, mit denen ich über solche Dinge rede oder bei Interviews wie diesem (welches unglücklicherweise abgebrochen werden musste und hoffentlich heute noch gezeigt/wiederholt wird). Wenn man sich damit auseinandersetzt merkt man, wie sich nach und nach dieser Staub der allgemeinen Überreiztheit oder Unklarheit legt und die Konturen unserer Situation verdeutlicht und nachgezeichnet werden.

Die Frage, die ich mir dabei konstant stelle ist aber Folgende: was macht das alles mit einem jungen Menschen, der in so eine Welt hineingeworfen wurde? Während ich in einer handylosen Welt aufgewachsen bin und peu a peu mit diesen neuen Technologien des Selbst großgeworden bin und damit gelernt habe, meine Segel nach dem immer wieder neu aufkommenden Wind zu setzen und diese so zu kontrollieren, so dass ich konstruktiven Nutzen daraus ziehe und daran wachse während ich andere Dinge einfach ausblende, werden viele junge Menschen mittlerweile von Orkanböen an Eindrücken und Verführungen erfasst und umhergewirbelt und durchgeschüttelt. Natürlich darf man nicht vergessen, dass junge Menschen sehr anpassbar sind und viele von ihnen sich so etwas gut aneignen können, aber es gibt auch Menschen, die es nicht können bzw. gar nicht die Chance erhalten, dies zu lernen. Wie überall gibt es unterschiedliche Arten von Menschen: die einen nehmen es gar nicht groß war und akzeptieren die Sachen (vielleicht auch unkritisch), andere tauchen voll ein und fühlen sich wie ein Delphin im Meer, aber es gibt auch die Reizüberfluteten, die Abgeschlagenen, die, die von diesem Zugang völlig überreizt sind und gar nicht abschalten können. Oder von diesem Balztanz eingeschüchtert werden. Und da habe ich noch gar nicht von der Sexualisierung und dem rohen Umgang gesprochen, die ein eigenes Feld aufmachen.

Für mich ist dieses Verhältnis, was ich jetzt ja wirklich nur skizziert habe, auch der Grund dafür, warum Jugendliche (und viele Gleichaltrige) sich für so wenige Dinge begeistern lassen können. Dieses Ringen um Aufmerksamkeit mit immer größeren Verführungen sorgt dafür, dass unsere Endorphine in einer Tour feuern (sinnbildlich gesprochen), wenn wir diese Reize nicht mehr erfahren, werden wir traurig, müde, lethargisch, abgeschlagen und am Rande der Depression. Fühlen uns gestresst und haben keine Lust auf Neues. Die häufigste Antwort die ich von Jugendlichen auf die Frage "Wie gehts" oder "Wie wars" bekomme ist entweder: "Ja, ganz chillig/entspannt" oder "War totaler Stress"... Bezeichnend, oder?

Haben wir uns nach einem Nickerchen erholt, machen wir sofort wieder ein Gerät an, dass uns diesen Verführungen aussetzt und wir stehen wieder in diesem Strom an Glückshormonen. Dabei kann kein gemeinsames im Park liegen den Glücksversprechungen der nächsten Dämonenschnetzelei oder dem Influencer-Peptalk standhalten. Es sind die leisen Töne, die wir wieder suchen müssen, die leisen Resonanz-Räume, die uns helfen, die kleinen Dinge der Welt und damit auch uns selbst schätzen zu lernen, um daraus Kraft und Wertschätzung zu schöpfen. Aber wie soll ein junger Mensch in einer so lauten Welt lernen? Wir würden das Fenster zu machen oder die Sinne einschränken. Aber was sind unsere Möglichkeiten im Alltag? Wenn wir uns verschließen, hängen wir usn dann nicht ab? Machen wir uns dann nicht auch blind für die vielen schönen Dinge im Leben? Damit einher geht für mich noch eine weitere Frage: Wie kultivieren wir die Fantasie der Jugendlichen, um sich mal wieder mit Hilfe eines Buches gegen Orkhorden zu schnetzeln, statt es sich einfach in aller Pompösität in Dolby Digital und Riesenbildschirm anzuschauen? Viele der Jugendlichen mit denen ich arbeite haben ja nicht mal mehr Lust, Filme zu schauen, weil diese mit 90 Minuten zu lang sind oder sie sie nicht als wirklich spannend empfinden. Ganz zu schweigen von den Jugendlichen, die am Handy daddeln oder mit einem Kopfhörer etwas hören und mit jemand anderem reden. Wie soll ein Gehirn das gut verarbeiten? Ihr merkt, das Problem treibt mich um.


Die Ursache 

Ich möchte hiermit noch einmal auf meine Anfangsthese kommen und abschließen. Ich habe Sorge, das ich allein schon aufgrund der Länge dieses Textes nur einen Bruchteil der Menschen erreiche die ich vielleicht erreichen könnte, ganz zu schweigen von der Frage, ob das hier Menschen wirklich interessiert. Vielleicht lesen sie es auch nicht, weil sie mit mir nichts verbinden oder weil sie mit sich selbst beschäftigt sind. Oder eben, weil der Text zu lang (oder schlecht/wirr geschrieben) ist. Und genau das verdeutlicht das Problem. Wenn ich nur noch Texte in kleinen (Twitterbox-)Häppchen schreibe, erreiche ich vielleicht viele Leute. Aber was habe ich dann eigentlich gesagt? Kann man diesen Text hier auf 360 Zeichen kürzen? Was hätte ich damit erreicht? Vielleicht kann ich mich eben nur in dieser Form ausleben. Bin ich deswegen nicht richtig für diese Welt?

Das sind genau die Fragen, die man stellen sollte, die die Komplexität unserer gegenwärtigen Mediengesellschaft umrahmt. Ich will damit nicht sagen, dass es (wie bei so manchem Verschwörungstheoretiker) instrumentalisierte Mechanismen sind, die hier wirken. Aus meiner Sicht ist die Grundstruktur des Ganzen so simpel wie problematisch: Medien und ein Großteil der wahrnehmbaren Kultur organisieren sich nach dem Prinzip der freien Marktwirtschaft. Marketing-Psychologie trifft technologischen Fortschritt trifft dein Gehirn. Das höchste Ziel dahinter ist die Generierung von Geld. Instragram will möglichst viel Content, um Daten über seine Nutzer/-innen zu erzeugen, welche attraktiv genug sind um mehr User anzuziehen. Diese Nutzerdaten und target marketing kann dann geldbringend verkauft werden. All diese Verführungen zielen darauf, uns an sie zu binden, unsere Hirnwindungen zu knacken und den eigenen Gewinn zu sichern. Sie kümmern sich nicht um Selbstsorge (oder wenn, vermarkten sie dies. Man muss sich nur die unendlich vielen Achtsamkeitsratgeber anschauen). Ich persönlich lese das böswillig, immerhin sind die Effekte die damit verbunden sind ähnliche wie beim menschengemachten Klimawandel. Aufgrund von ökonomischer Gier entziehen wir uns den Grundlagen zu Leben (Umwelt) oder im Falle dieses Textes den kulturellen Mechanismen, um als Persönlichkeit zu reifen und zu gedeihen. Um mündig zu werden. Um ein Leben zwischen den Endorphinen zu leben. Um die Endorphine in den kleinen Dingen der Welt zu finden. Einer Berührung, einem wertschätzenden Klopfer auf die Schulter oder dem gemeinsamen Gruppengefühl beim Sport. Man kann es auch als "So ist die Welt nun mal" lesen, die Kontingenz unserer Gesellschaft. Aber genau dann ist man eben nur dieser passive Konsument. Man könnte sich auch fragen, genau wie bei der Wirtschaft: warum leben wir eigentlich nicht nach anderen Werten? Nach Werten, die den Menschen schätzen und schützen. Das wäre doch mal ein politischer Slogan. Schätzen und Schützen. In der Wirtschaft ist es die Gemeinwohlökonomie, hier könnte es so etwas wie Achtsamkeit sein... Es braucht mündige Nutzer:innen, Menschen, die sich mit Technikkompentenz den Fragen nach Datenschutz, Umgang und Nutzung stellen und den Leuten ein Kompass sind, um sich verantwortungsvoll in das Reich der Bits und Bytes zu begeben.


Nachklapp

Nachdem ich diese Gedanken in einem morgendlichen Wust innerhalb von knapp 2 Stunden zu Papier gebracht habe, bin ich über diese Videos gestoplert und fühle mich auf einmal verbunden. Vielleicht hätte ich nur diese Videos posten sollen :D







Außerdem gibt es eine sehr interessante Doku, die zwar an einigen Stellen sehr sensationserhaschend ist, aber auch viele interessante Einblicke gibt:





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