Individualisierung // Eigenverantwortung

Ein paar Gedankenfragmente.



Die Welt dreht sich. Und mit ihr die Wertevorstellungen, die Sozialisationsbedingungen und die Sinnzusammenhänge, mit denen wir uns tagtäglich auseinandersetzen. Gab es vor 20 Jahren noch ein recht überschaubares Repertoire an Medieneinflüssen, Serien, Filme und Bücher voll mit Jugendhelden und spannenden Biografien an denen man sich irgendwie orientiert hat, wird man heute damit wahrlich überflutet. Das Leitmotiv das sich dabei in unserer westlichen Gesellschaft herausformt ist dabei die Individualisierung, die Signatur unserer Zeit ist die Selbstverwirklichung. Die Bilder, in denen wir uns selbstverwirklicht sehen entstehen selten autark, sie brauchen häufig ein Vorbild, eine Brücke, etwas, das uns vormacht, wie wir sein könnten oder zumindest ein Rückhalt, das es OK sein könnte. Fiktionale Charaktere wie Pippi Langstrumpf oder Lisa Simpson haben unzähligen Frauen in ihrer Haltung bestärkt, Rückhalt im Anders-Sein gegeben, Impulse gesendet und Muse gespendet. Serien wie The L-Word oder Six Feet Under haben der Homosexualität Normalität eingehaucht und wie viele Jugendliche wollten nach Top Gun nicht Pilot werden? 
Ich darf so sein wie ich will. Das klingt banal, doch es bestärkt (natürlich neben vielen anderen Umständen) Menschen darin, so sein zu dürfen wie sie wollen und ermöglicht einen Blick darauf, wie ihre Biografie aussieht und aussehen könnte. Diese ‚Leitbiografien‘ haben sich im digitalen Zeitalter exponentiell entwickelt. Gab es früher eine überschaubare Gruppe an Menschen, denen man womöglich nacheiferte, sind es heute Hunderte von Lebensentwürfen, die alle attraktiv, spannend und erstrebenswert sind. 
Mit diesem Wandel geht aber auch ein Problem einher. Denn gerade durch die vielen Biografien entsteht dabei ein Perspektivwechsel, der so nicht immer möglich war und nie so häufig trainiert wurde. Noch nie war der Mensch so reflektiert wie heute. Noch nie war er sich der Tatsache der Kontingenz des eigenen Lebens so bewusst. Alles was ich bin könnte auch anders sein. Man hätte einen anderen Weg einschlagen können, sich anderen Themen widmen können. Es lässt sich auf einmal ablesen, was aus einem geworden wäre, wenn man einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Mit all diesen Lebenswegen erhält man auf einmal eine so komplexe Chiffre, mit dem man seinen eigenen Lebensentwurf vergleichen kann und rechtfertigen muss, warum man so lebt, wie man lebt. Kann man das überhaupt rechtfertigen? Und womit? Hätte hätte Fahrradkette sagen manche. Doch die Welt suggeriert in ihrem massenhaften Strom an fantastischen Lebenshöhepunkten, dass es eigentlich niemandem mehr schlecht gehen muss, dass es selbst gewählt ist, wenn man nicht ständig zu Parties geht, attraktive Menschen kennenlernt oder nicht um die Welt reist. Andere machen es doch auch, du musst nur wollen!
Mit dieser Perspektive entsteht ein Dilemma, eine harte Sinnkrise, die nicht etwa in enormer Produktivität endet sondern in Prokrastination. Dem ständigen Weiterforsten nach neuen Lebensentwürfen, der Zerstreuung von der eigenen Biografie um bloß nicht stehen zu bleiben und festzustellen, dass man sich vielleicht „falsch“ entschieden hat. Was mache ich nach der Schule? Studiere ich das Richtige? Warum mache ich nicht das, was der Mensch dort macht? Die Ruhelosigkeit zieht ein und lässt keinen Raum mehr um langfristig nachzudenken, reflektieren und entscheiden. Warum auch, wenn was nicht klappt kann man sich ja einfach dem nächsten Projekt, dem nächsten Partner oder der nächsten Stadt zuwenden. Verbindlichkeiten lassen nach, Freundschaften verlieren ihre Intensitivität und Events werden zu einem weiteren Eintrag im Ich-Katalog. Tinder und co. verdeutlichen dieses Biografiebausteinmodell nur zu gut. Eine Partnerbörse, in der man unverbindlich Kontakt suchen und aufnehmen kann. Wenn es nicht klappt, was solls, such ich mir einfach die nächste Person die mir Tinder ausspuckt. Der vermeintliche technische Fortschritt, der Mehrgewinn daraus ist gleichzeitig auch die Crux.
Mit dieser Haltung, dieser individualisierten Haltungsmatrix, die jeder von uns auslebt und zu der jeder erzogen wird, ist Freiheit und Fluch zugleich. Sie treibt alles an, aber auch alles auseinander. Sie erstickt den zwischenmenschlichen Raum, in dem es OK ist, sich einmal zu streiten und führt zu Bequemlichkeit die es uns verlernt, andere Meinungen auszuhalten. Diskurs ja, aber bitte nur unter meines gleichen. 
Ich bin wirklich gespannt, wie die Welt in hundert Jahren einmal aussehen wird.

Kommentare

Beliebte Posts