World's End Girlfriend



After the Post Rock






2004 oder 2005 öffnete ich eine Liste mit unzähligen Band-Namen, die von einem entfernten Bekannten zusammengestellt wurde. Zu dieser Zeit trieb ich mich wie er auf der fantastischen Plattform "After the Post Rock" herum, ein Sammelbecken für Freunde abstrakter, melancholischer Musik, die sich nicht so leicht subsumieren lässt. Ambiente, DrumnBass, Witch House, Glitch, Shoegaze, Psychedelic Rock, Progressive, Breakcore, PostRock, Downbeat, Wonky, Dubstep, 2Step, all das war zu dieser Zeit noch schwer zu benennen und erst nach und nach sollten sich Genregrenzen zunehmend ausdifferenzieren und einen Namen bekommen. Die unterschiedlichen Genre und Bezeichnungen waren endlos, was sie einte war, dass man sie nur in Nischen-Sendungen im Radio finden würde, wenn überhaupt. Markant war außerdem eine dichte, verträumte Atmosphäre, die oft ohne Lyrics, dafür aber mit Stimmungsbildern hantierte und damit vertraute, fremde, verstörende oder schmeichelnde emotionale Landschaften schuf, die den Bildern im Kopf irgendwie Ausdruck verliehen oder beflügelten. In diesem Forum sammelten sich die ruhelosen Geister, die auf der Jagd nach diesem warmen, vertrauten Gefühl waren, dass nur Musik induzieren kann. Diese herzliche Umarmung, wenn sich eine Melodie wie ein Puzzleteil in die Seele einschmiegt, sich der Vorhang vor dem Sonnenaufgang öffnet um ein wunderschönes Panorama preiszugeben. Regnerische Szenarien, Gewitter auf dem offenen Meer, hochgezogene Kapuzenpullis und ganz viel schwarz. Das sind die Assoziationen, die noch heute diesen Dunstkreis an Menschen charakterisieren, motivieren und identifizieren. 
Als sich nun herausstellte, dass der besagte Bekannte ebenfalls dieses Forum besuchte, war ich ganz überrascht und freudig, denn die wenigen hundert Menschen, die sich dort herumtrieben, waren über die ganze Welt verteilt. Es fiel mir schwer (wie heute auch noch), Gleichgesinnte zu finden, deren Musikgeschmack meinem ähnelte. Umso erfreulicher war ich über diesen Bekannten. Wir tauschten Musik aus und mir wurde die bereits erwähnte Liste zugespielt. Diese beinhaltete hunderte Bands sowie jeweilige Download-Links zu ihren Alben. Ich fühlte mich befangen, denn auch wenn ich Musik immer wieder auch downloadete, dann doch nur um zu schauen, ob sie mir gefällt und sie dann unmittelbar zu kaufen, sofern es denn möglich war. Bandcamp war noch Jahre entfernt und viele Bands konnte man sonst höchstens live oder via Import supporten. Dennoch war meine Neugier immens, denn viele der Namen auf der Liste kannte ich vom Hörensagen, aber ich kannte ihre Werke nicht.
Ich begann also, die Liste zu durchstöbern, doch wie das so oft der Fall ist, bleibt bei einem so großen Korpus an Musik einfach nicht viel hängen. Es mangelt an Persönlichkeit, an Seele, an Herzblut, wenn man einfach nur mit einem gesichtslosen Link plus Bandnamen konfrontiert wird. Nach und nach scrollte ich mich durch die Liste und suchte mir ein paar vertraute Bands heraus, die ich zeitweise lieben lernte, aber auch wieder verlernte. Nur bei einem Namen entfaltete sich eine ungewöhnliche Gravitas, die mich in seinen Bann zog und der mich nicht mehr los ließ. 




World's End Girlfriend 



Ganz am Ende der Liste stolperte ich über World's End Girlfriend, einem Namen, den ich vorher noch nie gehört hatte, der aber meine Sehnsucht um das Ende der Welt seltsam genau ins Mark traf. Der Name erschien in dieser Liste wie ein magisches Zauberbuch in einem angestaubten Regal versteckt in einem geheimen Raum einer uralten Bibliothek. Dieses Buch, welches seltsam zurück starrte und einen selbst so genau studierte wie ich selbst das Buch. Die Freundin vom Ende der Welt beflügelte meinen Verstand, rief seltsame Assoziationen hervor, die so quer zu allem standen, was mir bis dahin vertraut war. Das musste ich hören. Ich folgte dem Link zum Album Lie Lay Land und Farewell Kingdom und begann, sie zu hören. Verquere, sperrige Musik dudelte sich in mein Hirn und verstärkten die Eindrücke des Bandnamens. Die Melodien und vor allem der Krach versuchten sich an den Innenwänden meiner Vorstellungskraft festzukrallen, blieben aber erfolglos. Vermeintlich zumindest, denn irgendwie konnte ich nicht ablassen und musste es immer wieder hören. Irgend etwas blieb jedes Mal zurück, etwas unbekanntes, nur schwer zu identifizierendes, etwas, wie das Etwas im Raum, dass, wenn man hinschaut, verschwindet, aber aus den Augenwinkeln definitiv vorhanden ist. Ich packte die Musik auf meinen IPod und verbrachte Tage, gar Wochen damit, um all die verschiedenen Einflüsse auseinanderzudröseln. Glitch, DrumnBass, klassische Musik, traditionelle Musik, Rock, all diese Musikarten liesen sich wiederfinden, doch machte es gar keinen Sinn, sie auseinanderzunehmen oder zu versuchen, sie zu bezeichnen, denn fügten sie sich doch zu etwas ganz Eigenem, Einzigartigen zusammen. Und mit jedem Hören entfaltete sich die Musik mehr und mehr, untermalte alltägliche Szenerien, umrahmte schöne Momente und brachte eine Gefühlswelt in mir zum Ausdruck, die schon immer da war, aber noch keinen Weg fand, sich zu artikulieren.
Slavoj Zizek sagte mal: "We feel free because we lack the very language to articulate our unfreedom", was ungefähr sowas bedeutet wie: wir fühlen uns frei, weil wir nicht über die Sprache vermögen, um unsere Unfreiheit auszudrücken. Mit anderen Worten: unsere Möglichkeiten, sich zu artikulieren ist so eingeschränkt, dass wir uns über die freiheitsraubenden Umstände um uns herum nicht äußern können, da wir sie aufgrund mangelnder Sprache nicht wahrnehmen können.
Nachdem ich nun Stück für Stück World's End Girlfriend für mich erschlossen hatte, mich mit diesen bezaubernden Melodien innerhalb des chaotischen Wirbelsturmes an musikalischen Fragmenten vertraut machen konnte, die nach und nach immer heller schienen wie ein Sternenbild, dass mir die Richtung weist, konnte ich verstehen, was Zizek meint. Die Musik eröffnete einen Zugang zu meinem Inneren, ermöglichte eine neue Sprache, ein Sensorium um mit den traurigen Gedanken in mir zu kommunizieren und eine fruchtbare, anerkennende emotionale Bindung aufzubauen, die all das in eine kreative Qualität kanalisierte und mich zugleich unendlich berührte. Sie machte mir klar, dass Melancholie und Trauer nichts schlimmes ist, sie ist nur eine weitere Sprache die mir hilft, die Welt einzuordnen und zu verstehen, die die Bilder in meinem Kopf beschreiben konnte und in die reale Welt zu transferieren vermochte. Nach und nach verwoben sich einzelne musikalische Stücke immer mehr mit meinen Gefühlen, verwurzelten tief in meiner Seele und wuchsen aus ihr wie ein kräftiger, wuchernder Baum, der mir Kraft und Selbstvertrauen zu geben vermochte, an den ich mich anlehnen konnte. Immer mehr vermischten sich diese Eindrücke mit meiner Identität, was sich nicht zuletzt an diesem Blog (daydream loveletter) und meinem Nutzernamen (blackholebird) niederschlägt, aber mich auch durch den Alltag begleitete. Musik über Vögel in schwarzen Löchern, einem gruseligen Zirkus mit schrägen Gestalten mitten im Wald, riesige Mottentore zu anderen Dimensionen, Raumschiffe, Liebesbriefe an den Tagtraum, verträumtes Rumliegen und Gedanken an Verstorbene wandern durch diese Welten und sind stete Begleiter und Trostspender.






Als ich dann eines Tages ein Interview von dem Mastermind hinter World's End Girlfriend las, wurde mir klar, dass ich einen Bruder im Geiste hatte. Katsuhiko Maeda schrieb über mein bis heute noch liebstes Musikalbum:


"Hmm. It’s difficult to put in words. I can explain parts but it will be hard to grasp the axis or space of it... Anyway to explain it in parts, in the first song there are tens of thousands of moths creating a gate. The moths’ wings are hitting each other and there is a lot of ‘scale’ floating in the air. It sparkles like a fog, and sticks on the skin of people who pass through the gate. By becoming covered in the ‘scale’, a threshold is made between us and the world, and at the same time, you enter another world. Once you pass through the gate, that world is covered in the sparkling powder, and continues on that way... Also, I don’t think this album is that dark. For instance, the 5th song is partially about night in a deep forest and is dark, there are sounds that come from the animals or grass and leaves on the trees, so it seems quiet but you feel fulfilled some how. And if you listen carefully, the child’s screaming that you hear is not from fear or pain. The child is excited and enjoying that the forest is so dark and that there are many sounds surrounding him, and is playing. It is the same as the animals not fearing the darkness of night."

Leider ist das Interview im Netz nicht mehr verfügbar, ich hätte es gerne noch einmal verlinkt. Aber dieser Ausschnitt zeigt, wie diese seltsame wie komplexe Fantasiewelt durch die Musik transportiert wird, die für mich absolut einmalig ist. Ich würde Katsuhiko Maeda als einen Vorreiter bezeichnen, der eine ähnliche Vision beschreibt wie David Bowie. Es scheint bei beiden weniger um die eigene Identität als viel mehr die kreative Kraft mittels der Figuren und Welten zu gehen, die sie heraufbeschwören. Sie entfalten eine Magie, die sich fernab von Konventionen verhalten, die musikalische Genre neu definieren und verhandeln, sie zeichnen ganze Universen mit Hilfe ihrer Instrumente und sie schaffen es, direkt mit unseren Herzen zu korrespondieren.

World's End Girlfriend hat nun mittlerweile acht Werke veröffentlicht, darunter eine fantastische Kollaboration mit den eher einseitigen wie tollen Mono sowie hinzukommend viele Kollaborationen und Soundtracks, gleichzeitig hat sich Katsuhiko Maeda in den letzten Jahren ein bisschen zurückgezogen, um sein Label Virgin Babylon Records aufzubauen. Um sich herum versammelte er immer mehr Bands mit einzigartigen Visionen, die sich seinem wilden Zirkus der Gefühle einfügen und eigene Vorstellungen verfolgen.



Für November 2016 hat er nun endlich, nach fünf Jahren, ein neues Album angekündigt, welches sich bisher so vielversprechend wie noch nie anfühlt. Nach "Seven Idiots", einem etwas eigentümlichen Zugang durch E-Gitarren und 60s Rock, scheint er sich mit "The last Waltz" auf die Noise/Glitch Elemente zurückzubesinnen und diese mit den träumerischen Melodien zu verknüpfen, die ich so schätzen gelernt habe.



Ich bin gespannt, wohin mich dieses Band der emotionalen Beziehung mit World's End Girlfriend noch hinführen wird, aber ich bin mir sicher, dass es für immer so tief verwachsen bleiben wird und meinen Alltag jeden Tag bereichert.



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Kommentare

  1. Toll geschrieben blackholebird! Ich habe eher spät die Welten von Post-Rock und Ambient entdeckt (genau genommen letztes Jahr), aber dafür mich sehr intensiv mit vielen interessanten Gruppen/Künstler auseinandergesetzt.
    Und morgen kommt dann auch schon "LAST WALTZ"(bin wahnsinnig gespannt, genau wie bei "Program Music II" von Kashiwa Daisuke). Ich liebe genau wie du world's end girlfriend und kann dir ein paar andere tollen Künstler nennen, die ähnlich grandios wie WEG sind(vielleicht kennst du ein paar ja nicht):

    -Kashiwa Daisuke (Program Music I)
    -matryoshka (pseudepigrapha)
    -Yasushi Yoshida (Grateful Goodbye)
    -flica (Telepathy Dreams)
    -Eluvium (Copia)
    -Sigur Rós (Agætis byrjun)
    -Ólafur Arnalds (Eulogy for Evolution)
    -Summer Fades Away (We Meet the Last Time, Then Departure)
    -Aspidistrafly (A Little Fable)
    -Overhead,The Albatross (Learning To Growl)
    -Mutyumu (Ilya)
    -April Rain (a melting snowman)
    -Boris (Flood)

    Viel Spaß beim ausprobieren. Ich würd mich über einen Review von "Last Waltz" mit ein paar Einblicken in die Fantasiewelten, die du beim anhören betreten hast, freuen..

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    1. Hi niaL,

      vielen Dank für deine Eindrücke und die vielen (tollen) Empfehlungen. Die sind in der Tat großartig und besonders Kashiwa Daisuke (Program Music I hat mich auch mehr als nachhaltig geprägt!) und Mutyumu gehören neben einigen anderen auch ganz oben in meine Liste! Ein paar kenne ich aber noch nicht und die werde ich mir sehr gern näher anhören! Ich vermute, dass du schon längst darüber gestolpert bist, aber ebenfalls sehr empfehlenswert sind Yndi Halda, Last Days und Bersarin Quartett.

      Eine Playlist die ich einmal erstellt habe werfe ich auch noch in den Raum:
      https://8tracks.com/blackholebird/a-mind-full-of-stars
      (idealerweise zu hören über amerikanische Proxy-Server, leider wurde 8Tracks international eingeschränkt, oder hierüber: https://open.spotify.com/user/blackholebird/playlist/0QWKpO8FUuHSgaQSrGSv5c )

      Danke für die Empfehlungen!

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    2. Ebenfalls vielen Dank für deine Empfehlungen. Yndi Halda macht auch wirklich tolle Musik (besonders das Album Enjoy Eternal Bliss). Last Days und Bersarin Quartett kenne ich tatsächlich noch nicht und ich werde mal in deren Klangwelten eintauchen. Danke auch für die Playlist. Übrigens "LAST WALTZ" ist wirklich ein tolles Album und meiner Meinung nach um einiges besser als WEGs letztes Album "Seven Idiots". Es kommt wohl nicht an das Meisterwerk "Palmless Prayer / Mass Murder Refrain" heran, aber ich schätze ich werde "LAST WALTZ" ähnlich lieben lernen wie das grandiose "Hurtbreak Wonderland" Album. Lohnt sicht wirklich reinzuhören, ist auf jeden Fall sehr atmosphärisch und erinnert stark an ein Ende-der-Welt-Szenario passend zu "world's end girlfriend" :)

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    3. Nach 4-5 Hörgängen bin ich auch sehr angefixt. Im Vergleich zu Seven Idiots ist es durchaus etwas zugänglicher, hat aber noch viele unterschiedliche Ebenen, die mich echt begeistern. Momentan sind meine Favoriten Girl, Radioactive Spell Wave und Plein Soleil, aber ich brauche mehr Zeit und Möglichkeit, mich reinzuhören. Danach werde ich sicher noch einen Text schreiben. Aber bisher absolut fantastisch!

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